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Bernd Senf in
»emotion 4«
- die-wilhelm-reich-zeitschrift
Triebenergie, Charakterstruktur, Krankheit und Gesellschaft

»emotion«
will den Versuch machen, den inneren Zusammenhang der Reichschen Forschungen in möglichst verständlicher Form herauszuarbeiten und deren Bedeutung für die emanzipatorische Bewegung zu diskutieren. Dieser Versuch ist schon deshalb nicht leicht, weil die Forschungen von Reich immer wieder die traditionellen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen gesprengt haben. 

Die neuste Ausgabe ist beim Ulrich Leutner Verlag zu erhalten!

 

 

 

 


Orgonomischer Funktionalismus - Wilhelm Reichs Forschungsmethode (1982)
Von Bernd Senf
   Vollständiger Artikel als PDF Datei (33 Seiten)

Die Vielfalt der Gebiete, auf denen Wilhelm Reich grundlegende For­schungen betrieben hat, erscheint auf den ersten Blick mehr als verwirrend. Allein die Tatsache, dass er in Bereichen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, zu umwälzenden Erkenntnissen gekommen sein will, ist für viele schon Grund genug, ihn von vornherein als wissenschaftlichen Laien einzustufen und nicht ernst zu nehmen oder ihn gar als Spinner abzutun. Auf der anderen Seite deutet immer mehr darauf hin, dass die herrschenden Wissenschaften mit ihren traditionellen Forschungsmethoden und mit ihrer Aufspaltung in einzelne Disziplinen gegenüber der grundlegenden Erklärung und Bewältigung lebensfeindlicher Tendenzen nicht nur hilflos sind, sondern sogar mit zu ihrer Verstärkung beitragen.

Meine These ist die, dass für Reich die Aufdeckung grundlegender Zusam­menhänge über die Zerstörung des Lebendigen überhaupt nur dadurch gelingen konnte, dass er mit einer grundsätzlich andersartigen Forschungs­methode an die Untersuchung von Mensch, Natur und Gesellschaft heran­gegangen ist als die herrschenden Wissenschaften. Ich will im folgenden versuchen, das Besondere der Reichschen Forschungsmethode herauszuarbeiten, nicht nur, um den Forschungsprozess von Reich selbst in seinem inneren Zusammenhang besser verständlich werden zu lassen; sondern auch, um zu sensibilisieren gegenüber dem erkenntniszerstörenden Cha­rakter herrschender Wissenschaften. Die bewusste und kreative Anwen­dung der Reichschen Forschungsmethode scheint mir eine wesentliche Grundlage zu sein für die Entwicklung einer emanzipatorischen Wissen­schaft, die mit dazu beitragen kann, das Lebendige aus der Herrschaft des Erstarrten zu befreien und die mit dieser Herrschaft verbundenen destruk­tiven Tendenzen auf den verschiedensten Ebenen umzukehren. 

I. Vorläufer der funktionellen Denkmethode  
Reich hat sich erst relativ spät systematisch zu seiner Forschungsmethode geäußert, und zwar in einem 1945 geschriebenen Aufsatz über „Orgono­mischen Funktionalismus“, der in seinem 1949 erschienenen Buch „Ether, God and Devil“ abgedruckt ist (*1). Ansätze zu methodischen Betrachtungen finden sich schon in früheren Veröffentlichungen: einmal im Rahmen des Artikels „Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse“ (*2), danach in dem Aufsatz über „Dialektischer Materialismus in der Lebensforschung“ (*3) und schließlich im Rahmen der Veröffentlichung über seine biophysikalischen
Grundlagenforschungen zur Biogenese („Die Bione“) (*4). Während er bis dahin seine sexualökonomischen und biophysikalischen Forschungen noch als konkrete Anwendung der dialektisch-materialistischen Erkennt­nismethode im Bereich der Erforschung des Lebendigen verstand, gab er seiner Forschungsmethode später den Namen „Orgonomischer Funktio­nalismus“ - dies nicht zuletzt deshalb, um sich gegenüber den ideolo­gischen Verdrehungen und der politischen Praxis des Stalinismus abzu­grenzen, durch die der ursprünglich emanzipatorische Gehalt der marxistischen Theorie (und ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage: des dialekti­schen Materialismus) vollständig ins Gegenteil verkehrt worden war und wodurch jeder marxistische Begriff mit diesen Entstellungen in Verbin­dung gebracht wurde.

Bis zuletzt hat Reich nicht für sich in Anspruch genommen, eine prinzipiell neue Forschungsmethode entwickelt oder als erster angewendet zu haben. Vielmehr betont er, dass die seinen Forschungen zugrundeliegende Erkenntnismethode mindestens in Ansätzen schon von anderen verwendet wurde: 

„Obgleich die funktionelle Denktechnik hier zum erstenmal systematisch beschrieben wird, wurde sie doch von vielen Forschern mehr oder minder bewusst angewendet, ehe sie die starren Grenzen in der Naturforschung endgültig in Form der Orgonomie überwand. Ich möchte nun die wichtig­sten Namen nennen, deren Träger ich viel zu danken habe: De Coster, Dostojewski, Albert Lange, Friedrich Nietzsche, Lewis Morgen, Charles Darwin, Friedrich Engels, Semon, Bergson, Freud, Malinowski unter anderen. Wenn ich früher sagte, ich hätte mich in einen „neuen Denkbereich“ hineingestellt gefunden, so ist das nicht so aufzufassen, als ob der energetische Funktionalismus „fertig“ gewesen (wäre) und auf mich nur gewartet hätte; oder dass ich mir die Denktechnik von Bergson oder Engels einfach hätte aneignen und auf mein Problemgebiet glatt anwenden können. Die Formung der Denktechnik war selbst ein Stück Arbeit, die im Kampf meiner praktischen Tätigkeit als Arzt und Forscher gegen die mechanistischen und mystischen Deutungen des Lebendigen geleistet werden musste. Ich habe also nicht etwa eine „neue Philosophie“ entwickelt, die neben anderen oder in Zusammenarbeit mit anderen Lebensphiloso­phien das Lebendige menschlichem Begreifen nahe zu bringen versucht.
Nein, es liegt überhaupt keine Philosophie vor, wie mancher meiner Freunde glaubt. Es geht vielmehr um ein Denkwerkzeug, das man gebrau­chen lernen muss, wenn man das Lebendige erforschen und handhaben will. Es fallen die Denkgesetze und Wahrnehmungsfunktionen zusammen, die man beherrschen muss, wenn man Kinder und Jugendliche lebenspositiv in diese Welt hineinwachsen lassen will; wenn man das Menschentier wieder in Einklang mit seiner natürlichen Konstitution und mit der umgebenden Natur bringen will ... Der Schutz des Lebendigen fordert das funktionelle Denken (im Gegensatz zu Mechanismus und Mystizismus) als Kompass in dieser Welt, wie der Schutz der Verkehrssicherheit gute Bremsen und tadel­los arbeitenden Signalapparate fordert“
(*5) 

II.  Funktionalismus - Aufspüren gemeinsamer Funktionsprinzipien
Worin besteht das Wesentliche der „funktionellen Forschungsmethode“, die von Reich zunächst mehr intuitiv und später immer systematischer angewendet wurde und ihn auf den verschiedensten Gebieten zu umwäl­zenden Erkenntnissen führte? Ich will versuchen, dieses Wesentliche dadurch herauszuarbeiten, dass ich die Forschungen Reichs, die ich an anderer Stelle inhaltlich ausführlich skizziert habe (*6), noch einmal unter methodischem Gesichtspunkt betrachte. Der inhaltliche Zusammenhang der Forschungen wird dabei als bekannt vorausgesetzt. Ohne seine Kennt­nis dürften die folgenden Ausführungen nur schwer verständlich sein.
 

Ein wesentliches Prinzip der funktionellen Forschungsmethode besteht darin, unterschiedliche Erscheinungen der beobachteten Realität auf gleiche tieferliegende Wurzeln, auf „gemeinsame Funktionsprinzipien“ (CFP = Common Functioning Principle) zurückzuführen. Am deutlich­sten lässt sich diese Vorgehensweise mit dem Bild eines Baumes veran­schaulichen: So sehr sich jeder einzelne Zweig von anderen Zweigen unter­scheidet, so sehr entspringen sie doch alle gemeinsamen tieferliegenden Ästen, die sich - wenn man immer tiefer geht - schließlich zurückführen lassen auf einen gemeinsamen Stamm.



Abb. 1 will diesen Zusammenhang schematisch darstellen. Die Zweige a und b haben bei oberflächlicher Betrachtung auf der 1. Ebene nichts mit­einander zu tun. Erst bei tiefergehender Betrachtung zeigt sich, dass sie auf der 2. Ebene einem gemeinsamen Ast entspringen. So sehr a und b auf dieser Ebene miteinander verbunden sind, so wenig verbindet sie scheinbar mit den Zweigen c - h. Diese Beziehungen offenbaren sich erst bei noch tiefergehender Betrachtung: Auf der 3. Ebene wird deutlich, dass a/b und c/d auf eine gemeinsame tieferliegende Wurzel zurückzuführen sind, und auf der 4. Ebene schließlich ergibt sich eine noch tiefere gemeinsame Wurzel aller Zweige a - h. 

Wenn es sich bei den tieferliegenden Wurzeln jeweils um gemeinsame Funktionsprinzipien handelt, die allen daraus abgeleiteten Erscheinungen zugrunde liegen, dann lassen sich die unterschiedlichen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang ganz anders verstehen, als wenn die tiefere Wurzel unbekannt wäre: Das, was bei oberflächlicher Betrachtung als zusammen­hanglos erscheint, wird durch die Aufdeckung gemeinsamer Wurzeln aus einem tieferen Zusammenhang heraus verständlich. Die funktionelle Denkmethode leugnet nicht die Unterschiede der einzelnen Erschei­nungen, aber sie sucht vor allem nach den tieferliegenden gemeinsamen Funktionsprinzipien, die den unterschiedlichen Erscheinungen zugrunde liegen. Reich schreibt zu dieser Methode: 

„Der Unterschied grundsätzlicher Natur zwischen Orgonomischem Funk­tionalismus und allen anderen Denkmethoden besteht darin, dass der lebendige Organismus nicht nur direkt verknüpft, sondern überdies nach einer gemeinsamen, dritten und tieferen Funktionsbeziehung sucht. Es folgt nun einfach und logisch aus dieser Verknüpfung zweier Funktionen über ein drittes und gemeinsames Funktionsprinzip: 

1. Sämtliche existierenden Funktionen werden im Fortschritt der Erkennt­nis einfacher und nicht komplizierter. Hier befindet sich der Orgonomische Funktionalismus in scharfem Widerspruch zu allen anderen Denkmetho­den. Für den Mechanisten und den Metaphysiker wird die Welt um so komplizierter, je weiter das Wissen über Tatsachen und Funktionen fort­schreitet. Dem Funktionalisten werden die Naturprozesse einfacher, heller und durchsichtiger.
2. Mit dem Verknüpfen im gemeinsamen Funktionsprinzip ergibt sich auto­matisch eine Forschungsrichtung, die nach Erkenntnis noch einfacherer und noch umfassenderer Funktionsprinzipien drängt ... Wir können ent­scheiden, ob wir das Besondere, oder das Allgemeine, das Unterschei­dende oder das Gemeinsame, die Abartung oder das Grundsätzliche unter­suchen wollen. Die Abartung hat ihre eigenen Funktionsgesetze, die sie von den anderen Abartungen unterscheidet. Gleichzeitig gehorcht die Abar­tung dem allgemeinen Funktionsprinzip ihres Ursprungs ...“ (*7) 

 „Die mechanistische Denkweise bevorzugt das Unterscheidende, übersieht gewöhnlich das Gemeinsame, und wird daher starr und scharf trennend. Die funktionelle Denkweise ist zunächst einmal am Gemeinsamen interes­siert, da die Betrachtung des Gemeinsamen tiefer und weiter führt ... Das Gemeinsame ist immer auch dasjenige, das auf gemeinsamen Ursprung hinweist. Die Erforschungen gemeinsamer Funktionen verschiedener Erscheinungen ist daher stets auch historische und genetische Forschung.“ (*8)

Diese Denkweise zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten Forschungen von Reich. Ich will versuchen, diesen Faden in groben Zügen nachzuzeichnen.
 

III.    Reichs Forschungsprozeß unter methodischem Gesichtspunkt 

1)    Panzerung - gemeinsame Wurzel neurotischer Erkrankungen
In seinen charakteranalytischen Forschungen hat sich Reich schon in den 20er Jahren für die gemeinsame Wurzel interessiert, die den unterschied­lichen neurotischen Erkrankungen zugrunde liegen könnte.



Zwar unter­scheidet er in der Charakteranalyse im einzelnen die Erscheinungsformen und die Entwicklungsbedingungen unterschiedlicher Charakterformen (hysterischer Charakter, Zwangscharakter, phallisch-narzisstischer Cha­rakter, masochistischer Charakter), aber er arbeitet gleichzeitig das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Erscheinungsformen heraus: die charakterliche Panzerung. So unterschiedlich die Ausdrucksformen der einzelnen Charakterstrukturen sind und so unterschiedlich auch ihre indi­viduelle Entwicklungsgeschichte, gemeinsam ist ihnen allen eine mehr oder weniger starke charakterliche Erstarrung. Im Charakterpanzer entdeckte Reich demnach das gemeinsame Funktionsprinzip der unterschiedlichen neurotischen Erkrankungen  (Abb. 2).

Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Vegetotherapie entdeckte er weiter, dass den unterschiedlichen charakterlichen Panzerungen unter­schiedliche körperlich-muskuläre Panzerungen entsprechen, die er begriff­lich in sieben Segmente einteilte: Augen-, Mund-, Hals-, Brust-, Zwerch­fell-, Bauch- und Beckensegment. Das gemeinsame Funktionsprinzip der unterschiedlichen Segmentpanzerungen sieht er in der chronischen Kon­traktion der entsprechenden Muskeln, die bei der Blockierung eines be­stimmten emotionellen Ausdrucks jeweils funktionell zusammenwirken. Die unterschiedlichen charakterlichen Erstarrungen sind demnach in jeweils ganz bestimmten Bereichen des Körpers als muskuläre Panzerun­gen verankert. Die einzelnen Charaktertypen lassen sich entsprechend auch durch die jeweilige Struktur der körperlichen Panzerung umschrei­ben: Jeder Charakterstruktur entspricht eine jeweils spezifische Struktur und Tiefe der Segmentpanzerung (Abb. 3).




2)    Körperpanzer, Psychosen und psychosomatische Krankheiten
Aus der gemeinsamen Wurzel der Segmentpanzerungen ließen sich nicht nur die unterschiedlichen Formen neurotischer Erkrankung, sondern auch die Psychosen ableiten. Nach Reich sind Psychosen funktionell identisch mit einer sehr starken Blockierung des Augensegments bei gleichzeitig relativ geringer Blockierung der übrigen Segmente. Daraus ergibt sich auch, dass der Übergang zwischen Neurosen und Psychosen fließend ist - wie überhaupt alle Übergänge zwischen den unterschiedlichen Charakter­formen. Die konkrete Charakterstruktur eines bestimmten Menschen ist insoweit immer ein Zusammenwirken verschiedener Teile der körperlichen Panzerung und ihrer jeweiligen Stärke und Tiefe. Die Vielfalt der neuro­tischen und psychotischen Krankheitsbilder wird damit nicht geleugnet, aber durch die Reduzierung auf wenige gemeinsame Grundelemente wird diese Vielfalt durchsichtiger und verständlicher, sowohl was ihre Ent­stehungsgeschichte anlangt als auch ihre Therapie.....

Die folgenden Schwerpunkte sind zusätzlich in der PDF-Datei (33 Seiten) zu finden:

  • Triebunterdrückung - gemeinsame Wurzel der Panzerungen

  • Patriarchat, Faschismus und Stalinismus

  • Funktionelles Verständnis der Krebskrankheit

  • Atmosphärische Orgonenergie und Orgon-Akkumulator

  • Radioaktivität und Übererregung von Orgonenergie (ORANUR)

  • Radioaktivität und Erstarrung von Orgonenergie (DOR)

  • Kosmische Orgonenergie - gemeinsames Funktionsprinzip aller Naturprozesse

  • Erforschung des Orgasmus - Voraussetzung für die Entdeckung der Lebensenergie

  • Herrschende Wissenschaft und Zerstörung des Lebendigen

  • Orgonomischer Funktionalismus und Befreiung des Lebendigen

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Version: 24.06.08 20:27:12